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Die ersten Tage am Rogen „O dieser mistige Sturm“„Was ist? Ich kann nix verstehn.“ „Scheiß Sturm, hab ich gesagt, mistiger“
„Ja, hau rein, nicht schlapp machen, sonst werden wir wieder zurück getrieben! Außerdem treibt uns der Wind ans Ufer!“ „Ich kann nicht mehr, wir kommen überhaupt nicht voran!“ Ein harter
Gegenwind blies uns ins Gesicht. Mit aller Gewalt trieben wir das Boot vorwärts, aber nur ganz langsam zog die Ufervegetation an uns vorüber. Meine Hände waren schwarz vom Aluminium des Stechpaddels. Wir mußten
versuchen, dicht an der Küste zu bleiben, denn dort war die Gewalt des Windes geringer, als weiter auf dem See; auf der anderen Seite wollten wir natürlich nicht jede Bucht ausfahren. Anfangs,
heute Morgen, als wir in den großen See einsetzten, war überhaupt kein Wind zu verspüren und wir waren schnell vorwärts gekommen, aber das lag wohl an dem langen,
hohen Bergrücken, der sich von Norden in den See schiebt und der die Bucht gut abschirmt. 834 Meter erhebt der Berg mit dem seltsamen Namen Kläppnäset Breannenjuana, während der See etwas 760 Meter über dem Meer liegt.
Jetzt aber verschwand der Berg schon weit hinter uns, vor uns lag der Himmel, das Wasser und eben der Wind ...Im Süden über dem langgestreckten Gebirge zogen
Schauerwolken auf, vielleicht auch Gewitter, das ließ sich im Augenblick noch nicht so genau sagen, aber sie zogen nordwestwärts und also an uns vorüber, sie hielten Abstand.
Offensichtlich blies der Wind dort oben aus einer anderen Richtung, denn hier unten kam er aus Nordwest. Wenn aber der Wind in den höheren Regionen schon aus Südost blies,
würde das Wetter wohl nicht mehr lange halten. Zunächst einmal würde sich das Spiel jeden Tag wiederholen, bis es dann wirklich naß werden würde. Noch aber schien die Sonne und die Schauer zogen auf festen Bahnen,
wahrscheinlich den Trysilelv hinauf und dann über den Femund. Sobald wir das Ende des Sees erreicht haben würden, wollten wir nach Süden schwenken und am Ufer entlang treiben, um sicher den Seeausfluß zu finden.
Gestern noch hatten wir mühsam in einem Labyrinth verzweigter Seen, Inseln und Halbinseln zu navigieren, welches sich im Nordosten desder Rogen
zwischen einer Hügellandschaft ausbreitet. Selbst mit dem Kompaß ist die Navigation nicht einfach, denn aus der Entfernung bilden die einzelnen Inseln zusammen mit dem Ufer für das Auge eine
einheitliche Landlinie. Zwischen den einzelnen Seen liegen kurze Portagestrecken von ein paar Metern, dann hat man schon das nächste Gewässer erreicht, und das Verwirrspiel beginnt von neuem.
Am Vorabend waren wir in See gestochen. Heiß war es gewesen. Auf einem Parkplatz am Käringsjö hatten wir den Wagen abgestellt, und Jasmin machte das Gepäck zurecht, während ich es zum Boot
schleppte. Ein paar Urlauber mit ausgeborgten Canadiern beabsichtigten, ein wenig auf dem See spazieren zu paddeln. Unser Plan aber war ein anderer. Zunächst hatten wir das schon erwähnte
Seenlabyrinth zu durchqueren, dann lag der große See vor uns, und an dessen Ende würde die Flußtour
auf der Röa beginnen, mit Stromschnellen aller Schwierigkeitsgrade, mit leichten Schnellen, aber auch mit Katarakten und Wasserfällen. Am
Ende würden wir dann in Norwegen den Femund-See erreichen, den wir dann nach Nordwesten zu überqueren hätten. Dann würden wir eine
Gelegenheit finden, um etwa 150 Kilometer weit zurück nach Schweden und zum Parkplatz, wo unser Wagen auf uns wartete, zu gelangen.
Etwa zehn Tage waren für die ganze Tour vorgesehen. Das bedeutete Gepäck und Verpflegung für mindestens zwei Wochen, denn das Unvorherzusehende muß immer eingeplant werden.
Nachdem wir also in See gestochen waren, während das Gehöft und der Parkplatz hinter uns in der Ferne verschwanden, neigte sich der Tag gegen Abend. Die
rote Sonne versank in den struppigen Wäldern, tauchte den Himmel zunächst in abendliches Rot, und dann brach grau die Nacht herein. Die erste Umtragestelle von etwa 300 Metern lag bald hinter uns. Keine
Menschenseele ließ sich auf dem Wasser oder an den Ufern blicken, kein Windchen kräuselte das Wasser, das bewegungslos und glatt vor uns lag. Es war ein wenig unheimlich so ganz alleine im Gewirr der
verzweigten Buchten, zwischen gerade eben haushohen Hügeln.Gegen Mitternacht hatten wir endlich ein Plätzchen gefunden. Es war immer noch fast taghell. Das Plätzchen lag auf halber Höhe eines Hügels am
Krattelsjön, und wir hatten einen leidlich guten Überblick über die Bucht zur Rechten und das Gewässer vor uns, auf dem wir morgen weiter paddeln würden. Den ganzen Tag über hatten wir nur ein paar
Scheiben Brot und ein wenig Fisch aus der Dose zu uns genommen. Wir waren also hungrig. Inzwischen war es auch dunkel geworden; schwarz lag das gegenüberliegende Ufer vor uns. Jasmin
hat ein weithin sichtbares Feuer entfacht, auf dem wir eine unserer nicht besonders aufregenden Mahlzeiten zubereiten: Erbswurstsuppe mit
den Resten unseres gerade noch frischen Brotes. In den nächsten Tagen aber würden wir sicher keinem Bäcker mehr begegnen.
Fleisch können wir nur in getrocknetem Zustande mit uns führen. Das bedeutet: Salami, Salami, Salami. Zwischendurch Speck, den Jasmin
nicht besonders liebt, dann wieder Salami. Gemüse ist fast unmöglich, denn bei dem hohen Wasseranteil vegetarischer Nahrung erübrigt sich
die Mitnahme von selbst. Auf einer der vorangegangenen Touren hatten wir es mit getrocknetem China-Gemüse versucht. Aber ohne die ganze
Palette chinesischer Gewürze und Saucen schmeckt die fernöstliche Mahlzeit nur nach heimischer Pappe. Schon abwechslungsreicher
gestaltet sich die Speisekarte der Beilagen: verschiedene Nudeln, Basmati-Reis, Kartoffelbrei (der sich übrigens auch sehr gut mit einfachem
Wasser zubereiten läßt) sorgen für ein wenig Abwechslung. Getrocknete und vorgebratene Zwiebeln ergeben eine würzige Beilage und wiegen fast nichts.
Der kommende Tag brachte tückische Durchfahrten zwischen verschachtelten Inseln und Halbinseln, wie schon erwähnt. Warm schien die
Sonne auf uns herab und am Himmel zog ein Greif seine Kreise. Ich versuchte, ihn mit dem Tele heranzuholen, aber er war doch zu weit weg.
Von der diffizilen Navigation einmal abgesehen, gestaltete sich der Tag recht schlaff. Nur die Navigation eben hatte uns ein paar Probleme
bereitet. Nur vom Ufer aus läßt sich mit dem sicher Kompaß peilen, denn auf dem Wasser wird das Boot vom Wind immer wieder versetzt und
in eine andere Richtung gedreht. Immer wieder also hatten wir das Ufer anzusteuern, um unseren Standpunkt neu zu überdenken und im
Gewirr der Buchten die Durchfahrten zu erraten. Auf dem Utussjön schließlich hatten wir dann doch die Orientierung verloren und mußten zu
einem bekannten Punkt zurück paddeln. Schließlich hatten wir gegen Abend auf dem Öster-Rödsjön eine Stelle erreicht, die nur durch einen
Fußmarsch von einer viertel Stunde vom Rogen getrennt lag. Der Fußmarsch versprach allerdings anstrengend zu werden, denn er führte 300 Meter über Fels und Geröll.
Heute Nacht wollten wir noch hier bleiben, morgen sollte es dann über den großen See gehen. Es immer wieder erstaunlich, wie schwierig es
ist, einen Zeltplatz ohne Steine und Wurzeln aufzustöbern. Vom Wasser aus scheint das grün bewachsene Ufer herrliche Zeltplätze zu bergen;
am Ufer angekommen aber erweist sich die ganze Herrlichkeit als unwegsame Geröllhalde. So war es auch an diesem Abend, und nur mit viel
Geschick gelang es uns, ein ebenes und nicht allzu steiniges Plätzchen für unser Zelt auszumachen.
Der Fußmarsch am nächsten Tag entsprach ganz den Erwartungen. Dreimal mußten wir gehen, um in brütender Hitze unseren Berg von
Gepäck und das Boot auf die andere Seite zu befördern. Ich verlangte nach Sonnencreme, aber die war irgendwo in den Tiefen unserer
Rucksäcke verborgen. Übel setzten uns auch die Moskitos zu, und besonders der Hund hatte zu leiden. Ach ja, der Hund, den hatte ich bis
jetzt ja ganz vergessen; wir hatten nämlich, wie üblich, unseren Münsterländer Fratz dabei. Vier oder fünf Wochen Wildnis ist natürlich ein
Vergnügen für jeden Hund, ein Vergnügen, das nur durch die Mückenplage geschmälert wird; das allerdings nicht unwesentlich.
In einer Bucht mit Sandstrand setzten wir in den Rogen ein, und unter dem Windschutz des Bergrückens zu unserer Rechten steuerten wir
unser Boot bequem in den See. Kaum allerdings, daß wir ans Ende der Halbinsel geraten waren, begann das mühselige Ankämpfen gegen den heftigen Nordwestwind. An der Quelle der Röa
Nachdem wir das Nordwestende des Sees erreicht hatten, hatten wir keine Mühe mehr, mit Rückenwind am Ufer entlang treibend den Ausfluß
aus dem See zu finden. Hier befand sich gewissermaßen die Quelle der Röa, welche die Verbindung zwischen dem Rogen und dem 95 Meter
tiefer liegenden Femund-See in Norwegen bildet. Das West-Ende des Rogen gehört schon zu Norwegen, und so hatten wir soeben, ganz ohne
es zu merken, die Grenze überschritten. Das allerdings ist in Skandinavien kaum noch eine Besonderheit. Wie anders war das doch damals,
als ich noch vor dem Zusammenbruch der DDR auf dem Schaalsee, einem heute unter Naturschutz stehenden Gewässer in Norddeutschland,
in einem Faltboot die Grenze zwischen BRD und DDR um ein paar Meter überschritten hatte! Sofort waren westdeutsche Grenzer in einem
Schnellboot aus dem Nichts herangeschossen gekommen und verstanden es, mir richtig Angst zu machen; und in der Tat, dort hinten am Ufer ragten drohend die Wachtürme unserer Brüder und Schwestern aus dem Wald. Nun, die Zeiten haben sich geändert. Hier in Skandinavien aber hat man sich wohl beiderseits der Grenzen schon lange keine Gedanken mehr
über Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit gemacht, sondern die Grenzen schlichtweg abgeschafft. Und so schleppten wir alsbald am frühen
Nachmittag unser Gepäck an Land, um an einem gar nicht steinigen Platz in Norwegen unser Zelt aufzubauen. Endlich gab es auch eine warme Mahlzeit, es ist die erste an diesem Tage.
Nicht weit vom Zelt entfernt rauschte die Röa als bescheidener, nur wenige Meter breiter Bach in einer mittelschweren Stromschnelle aus dem
Rogen heraus und ergoß sich in Richtung Femund. Nach dem Essen erkundeten wir zunächst das Gelände und vor allem die Stromschnelle.
Hinter dem Zelt erhob sich ein Hügel, von dem aus man einen weiten Überblick über den See und einen Teil der Röa hatte. Gleich nach der
Schnelle verbreiterte sich der Bach zu einem etwa 300 Meter breiten Sel. Doch weit konnte ich nicht sehen, und schon bald verlor sich die Röa
in undurchsichtigem Gestrüpp. In weiter Ferne schimmerte blau das Gebirge von der anderen Seite des Femund. Die Schnelle selbst
schätzten wir auf WW 3 oder ein wenig darüber; wir würden sie wohl sicherheitshalber umtragen. Uns war nicht nach sportlichen Experimenten in der einsamen Wildnis zumute.
Inzwischen, es war schon später Abend geworden, doch immer noch hell, hatten sich auch die Schauerwolken verzogen. Gewöhnliche Cumuli
lösen sich meist gegen Abend auf, nachdem die Konvektion, die Aufwärtsbewegung der von der Sonne erhitzten Luft nämlich, der sie ihre
Entstehung zum großen Teil verdanken, nachgelassen hat. Große Hoffnungen waren aber wohl fehl am Platze, denn sicher würden sie morgen
gegen Mittag wieder auftauchen. Überdies bin ich gewohnt, solche Cumuli, die aus Südost herantreiben, mit Sorge zu beobachten. Denn sie
verdanken ihre Entstehung nur zum Teil der Konvektion, zum anderen Teil aber entstehen sie durch eine Aufgleitbewegung, wenn sich
feuchtwarme Luftmassen aus Südost über ein sich abschwächendes Hoch schieben. Üble Südost-Gewitter, die sich jeden Tag wiederholen,
sind ihnen zu verdanken. Der Druck lag während dieser Tage zwischen 1008 und 1009 hPa und veränderte sich kaum. Beste Bedingungen also für die beschriebene Wetterlage. Auf dem Fluß
Nach einem langen, gemütlichen Morgen im Zelt brachen wir um die Mittagszeit auf. Der Himmel war überwiegend bedeckt, und noch immer
fegte ein kräftiger Nordwestwind. Eine dichte Wolkendecke aus Stratocumulus ließ kaum Sonne hindurch, und es bleibt kühl. Auch auf dem
kleinen See nach der Stromschnelle hatten wir mit dem Wind zu kämpfen. Die Ufer sind derartig mit Felsbrocken übersät, daß kaum ein
größeres Tier hier leben kann. In den Lücken kann nur spärlich so etwas wie Wald gedeihen, es ist eine karge und herbe Landschaft, die sich zu beiden Seiten des Sees ausbreitet.
Nach ein paar harmlosen Stromschnellen verengt sich das Flußbett schluchtartig. Hohe Felswände erheben sich auf der linken Seite, und vor
uns tauchte eine leichte Stromschnelle auf, die sich rechts hinter einem Felsen verlor. Wir waren mißtrauisch und stiegen aus, um die
Schnelle zu besichtigen. Kurz hinter der Biegung braust das Wasser schäumend etwa zwei Meter tief schräg über eine Felskante herab; im Falle einer Kenterung eine möglicherweise lebensgefährliche Stelle.
Wir umtrugen und setzten kurz nach der Stufe wieder ein. Es folgt eine etwa 300 Meter lange Strecke, verblockt und schwallig, eine einzige
Stromschnelle gewissermaßen. Wir hatten ein riesiges Vergnügen in der rasanten Schnelle, obwohl uns ein ungeschickt im Strom liegender
Block fast aus dem Boot geworfen hätte. Am Ende der Schnelle hängt ein Baum quer über den Stromzug, wie immer auf der falschen Seite;
wir mußten uns ducken und noch unter dem Baum auf die andere Seite steuern; danach ging es in einer Rechtskurve in den folgenden See.
Das war es dann auch schon gewesen. Unmittelbar an der Mündung, fast noch im Sichtbereich der herrlichen Schnelle und mit Blick auf einen wunderbaren See schlugen wir unser Lager auf. Es war inzwischen neun Uhr geworden.
Etwa um elf gab es Abendessen. Wir hatten Spaghetti gekocht. Spaghetti mit Tomatensauce und einem Schuß Olivenöl. Es war schon Ende
Juli und daher um diese Zeit schon recht dunkel. Am Ufer war eine Entenfamilie unterwegs und gab seltsame Laute von sich. Am nächsten Morgen bemerkte ich zwei Angler auf der anderen Seite der Röa. Wie zum Teufel, waren die dort hindorthin gekommen?
Schließlich waren wir noch am Vorabend der festen Ansicht gewesen, wir wären weit und breit die einzigen Menschen hier in der Wildnis. Nun, schließlich waren auch wir irgendwie hierher gekommen,
weshalb also nicht auch zwei Angler! Es bot sich somit die Gelegenheit, uns fotografieren zu lassen. Ich paddelte also ans andere Ufer.
„Hi“, sagte ich. „Hi“ der Angler. Ich erfuhr, daß die beiden Norweger waren (kein Wunder, wir waren ja in Norwegen) und vom Femund die Röa herauf gekommen waren, um hier
zu angeln. Zu Fuß, mit Rucksäcken und Zelt. „Can you do me a favour?“, fragte ich den Angler. „Yes“, erhielt ich zur Antwort, er konnte.
„We want to paddle down the rapid; we need some photographs. Can you take a couple of pictures? Can you handle a camera?“
Der Angler war einverstanden. Ich fuhr zurück auf die andere Seite. Das Zelt hatten wir schon abgebrochen, denn wir wollten heute gleich weiter fahren.
In Eile richtete ich die Camera, besorgte die Einstellungen und erklärte dem Norweger, von wo aus er uns fotografieren sollte und wie die Camera zu
bedienen sei. Ich arbeite seit vielen Jahren mit einer für heutige Verhältnisse altmodischen Spiegelreflex mit manueller Einstellung. Keine Elektronik,
keine Automatik, kein Autofocus. Nicht jeder kann damit umgehen, und ich habe schon bemitleidende Kommentare gehört. Gleich hinter dem überhängenden Baum sollte er stehen und uns von dort aus fotografieren.
Wir schleppten unser Boot in Eile die dreihundert Meter zum Einsatz, und schon waren wir auf dem Wasser. Die Stelle war zum Einsetzen nicht gerade günstig gewesen, die Strömung riss uns weg und trieb uns quer.
Jasmin auf der vorderen Position erhielt einen kräftigen Spritzer, konnte kaum noch etwas sehen und stieß einen grellen Schrei aus. Ich erschrak. Doch dann konnte ich stabilisieren und wir standen wieder gerade, just im
Augenblick, als wir ins Blickfeld unseres Camera-Mannes kamen. Der aber hatte uns noch gar nicht erwartet und sich derweil mit seinem Kameraden unterhalten. Er sah uns, riß die Camera ans Auge und begann zu
fotografieren. Unter dem Baum hatten wir wieder alle Kräfte aufzubringen, um das Boot nach links zu treiben; dann wieder die Rechtskurve und alles lag hinter uns.
Wir steuerten das Ufer an, und wenig später war auch der Norweger da. Aber schon während wir übersetzten, bemerkten wir, wie unser Boot Luft verlor; man konnte förmlich zusehen, es mußte ein großes Loch sein, und
das war es dann auch. Wir hatten uns einen kräftigen Schlitz geholt, so daß an Weiterfahrt heute nicht mehr zu denken war. Wir bauten an der gleichen Stelle unser Zelt zum zweiten mal auf. Dann
kam das Boot dran. Später machte ich einen Ausflug auf den Berg, der neben unserem Zelt etwa 20 oder 30 Meter steil aufragte. Ein paar Blaubeeren waren schon reif. Oben war er ganz flach, und dort konnte ich
bequem spazieren gehen. Vor mir im Südwesten lag der namenlose See, an dessen Ufer wir zelteten. Über mir, von Südosten, zogen dunkle Cumuli
heran. Zum Spaß rollte ich ein paar Felsbrocken den steilen Hang hinunter und freute mich, wie sie den Hang hinab polterten und in den See
klatschten. Ein infantiles Vergnügen. Ich war gerade wieder unten angekommen, da kamen vier Schweden mit Kandieren vorbei. Sie hatten die gesamte Schnelle umtragen und setzten neben unserem Zelt in den See ein. Am Abend, nach dem Abendessen, bei Einbruch der Dunkelheit, waren wieder die Enten da. Auch Fledermäuse flatterten umher. Die Hütte, das Loch und der Regen
So früh wie heute waren wir schon lange nicht mehr auf den Beinen. Um acht Uhr waren wir zur Weiterfahrt bereit. Das Boot hielt die Luft, wir
hatten offensichtlich keinen weiteren Riß übersehen. Das Wetter allerdings sah nicht gut aus. Stratocumulus, aber dazwischen schon früh morgens hohe Cumulonimben, welche die Inversion durchbrachen - feuchte Aussichten.Bis zum Övre Roasten mußten wir zwei mal umtragen. Der Övre Roasten bildet zusammen mit dem Nedre Roasten einen langgestreckten See
von sechs Kilometern Länge und liegt etwa in der Mitte der gesamten Strecke. Schon bei der Einfahrt in den See konnten wir in der Ferne
nieder gehende Regenschauer ausmachen. Noch aber hatten wir Glück und blieben trocken. Vorerst jedenfalls.
Am See-Ausfluß überspannt eine niedrige Holz-Brücke die Röa. Zu niedrig leider für uns, um mit unserem Boot darunter hindurch zu fahren.
Auch hier mußten wir wieder schleppen. Es folgen ein paar leichte Stromschnellen und dann, nach einem kleinen See, der seinen Ausfluß auf
der Mitte der linken Seite hat, eine ausladende S-Kurve mit geringer Strömung, eine richtig idyllische Strecke. Kein Laut war zu vernehmen,
kein Luftzug zu spüren. Unter dem Boot gluckste grünbraunes Moorwasser. Grau hingen dichte Wolken am Himmel, dunkel und
undurchdringbar verloren sich die feuchten Ufer im nahen Wald. Dann, ungefähr einen Kilometer nach der Brücke, liegt, zweihundert Meter
rechts im Wald versteckt, eine Touristenhütte mit Namen Rövollen. Vom Fluß aus und auch vom Ufer aus ist sie nicht sichtbar.
Die Hütte wollte ich mir ansehen – und war schon im Dickicht verschwunden. Ein schmaler Pfad führt durchs Gestrüpp und nach knappen
zehn Minuten hatte ich auch schon die Hütte erreicht. Ein Hüttenwart kümmert sich um die Gäste und die Hütte. Alles war sauber und
ordentlich, wie üblich in Schweden oder Norwegen. Ich schaute mir alles an, verabschiedete mich und machte mich auf den Rückweg zum Boot.
„Nick, Nick, wo warst du denn, ich hab solche Angst gehabt...“ Das war Jasmin, sie hatte sich alleine gefürchtet
und um mich hatte sie sicher auch Angst gehabt, es könnte mir etwas passiert sein. Es war mir nicht aufgefallen, aber ich war fast drei viertel Stunden unterwegs gewesen, und da war ich natürlich
vermißt worden. Ich mußte sie trösten. „Alles OK, ich bin ja wieder da, nun sei nicht traurig!“ „Wo warst du denn so lange? Der Hund ist alleine zurück gekommen, ich dachte schon, dir sei was
passiert.“ Das war wahr, der Hund war alleine zurück gelaufen, und da hatte sie natürlich nicht gewußt, was sie tun sollte. Wieder einmal war mir klar geworden, wie wichtig eine gute und eindeutige
Kommunikation in der Wildnis ist. Nun, es gelang mir schnell, sie zu trösten, und dann überlegten wir, an welcher Stelle wir wohl unser Zelt aufschlagen sollten. Es war kurz vor
sieben Uhr und Zeit, eine Lagerplatz zu finden. Wir paddelten hinüber auf die andere Seite, um Ruhe vor etwaigen Wanderern zu haben, und
schlugen unser Zelt auf einem schönen, ebenen und etwas erhöhten Plateau auf, gerade fünf Meter vom Ufer entfernt, und mit einer herrlichen
Aussicht auf die Röa. Wir waren kaum fertig mit dem Aufbau, da verdunkelte sich der Himmel und ein kräftiger Wolkenbruch stürzte auf uns
herab. Wir waren froh und glücklich, daß wir schon eine Unterkunft hatten. Als der Schauer vorübergezogen war, entfachten wir ein Feuer und kochten unser Abendessen; später gab es heißen Tee.
Auch am folgenden Tag waren wir wieder früh auf den Beinen. Wir befanden uns jetzt nur noch fünf Kilometer Luftlinie vom
Femund entfernt und damit natürlich im klimatischen Bereich des großen Sees. Wenn es richtig war, was ich vermutete, daß nämlich die Süd-Nord-Achse des Trysilälv-Tals und des Femund zumindest
bei der derzeitigen Wetterlage als Wetter-Schneise fungierte, auf welcher sich der Luftmassenaustausch zwischen Süd und Nord abspielte, dann würde mit der Annäherung an dieses Gebiet das
Wetter zunehmend schlechter werden. Vieles sprach dafür. Natürlich nehmen die Luftmassen mitsamt ihren schwarzen Cumulonimben den Weg des geringsten Widerstandes und ziehen die Täler
entlang, wenn es möglich ist, statt sich im engen Luftraum der Bergsättel zu drängeln. Große Flußtäler sind für ihre zu bestimmten Jahreszeiten fast schon permanent auftretenden Winde bekannt
und berüchtigt, wie etwa das Rhonetal in Südfrankreich. Schließlich hatten wir schon seit Tagen beobachtet, wie sich Schauer- und Gewitter-Bewölkung auf dieser Bahn bewegte.
Und wieder waren wir früh auf am nächsten Tag. Ein Blick an den Himmel ließ Schauer erwarten. Die erste Flußpassage ist traumhaft idyllisch. Es war kaum
Wasserzug zu verspüren und im mäandernden Flußlauf lagen einzelne kleine Inselchen versteutverstreut. Doch die Idylle trog, denn in wenigen hundert Metern würde uns ein mörderischer Katarakt erwarten, der auf
hundert Metern Länge zwanzig Meter in die Tiefe donnert. Auf der rechten Seite, dicht am Fels entlang, führt ein schmaler, teils ausgesetzter Pfad, auf dem wir umtragen konnten. Beim Wiedereinsetzen erreichte
uns dann der erste Schauer, der überhaupt kein Ende nehmen wollte. Nun ja, wir waren eben in Norwegen.Nach einer weitere unfahrbaren Stufe wartete eine neue, langgezogene Schnelle auf uns, die wir nicht
einsehen konnten. Zuerst versuchten wir, rechts einen Pfad zu finden. Ohne Erfolg. Wir paddelten auf die andere Seite und suchten dort einen Pfad. Ebenfalls ohne Erfolg. Also setzten wir wieder über auf die rechte
Seite und suchten erneut. Vielleicht mag sich der eine oder andere Leser wundern, weshalb wir unbedingt einen Pfad finden mußten, weshalb wir nicht einfach querfeldein über das Gelände l
aufen konnten. Das Gelände war aber derart mit Geröll übersät und zwischen den Geröllbrocken derartig sumpfig, daß ohne einen
Pfad ein Vorankommen nicht nur sehr mühsam und zeitraubend, sondern auch gefährlich war; wir wollten uns nicht die Beine brechen. Aber auch beim zweiten mal fanden wir hier keinen Pfad und setzten also wieder über
auf die linke Seite; allerdings fahren wir ein wenig stromaufwärts zurück, um vielleicht einen früher abzweigenden Weg zu finden. Meist führt an den
Flüssen ein schmaler Pfad entlang, auf dem Angler und Tiere verkehren. Auf diese Weise endlich fanden wir den gesuchten Pfad und konnten so zu Fuß die Schnelle erkunden. Dauer der ganzen Aktion: etwa zwei Stunden.Den ersten Teil der Stromschnelle beschlossen wir zu befahren; den Rest, der in einen lebensbedrohenden Katarakt übergeht, wollten wir umtragen. Es
klappt auch alles bestens und macht viel Spaß, aber beim Anlanden nach der Schnelle fanden wir, daß die Luft im Boot recht dünn geworden ist. Der Flicken, den wir vor zwei Tagen aufgesetzt hatten, ließ sich wie ein
Aufkleber ablösen. Man hat uns offensichtlich in Hamburg einen falschen Kleber verkauft.
Es gibt Kleber für Gummiboote und Kleber für Kunststoffboote. Es ist nicht lange her, da galten die Kunststoffboote für minderwertig. Das ist
auch heute zum Teil noch richtig, denn große Rafts benötigen eine gewisse Elastizität, und daran fehlt es den Kunststoff-Rafts. Ist diese
Elastizität nicht vorhanden, so knicken sie in den Wellen; danach strecken sie sich sprunghaft und können die ganze Mannschaft in die Fluten
schleudern. Für einen kleinen Canadier besteht diese Gefahr jedoch nicht; jedenfalls haben wir in all unseren Jahren mit unserem
Kunststoffboot niemals etwas derartiges erlebt. Wichtig ist ja nicht nur der Belag, sondern auch das Gewebe.
Unterdessen waren weitere Schauer nieder gegangen und hatten unsere Stimmung weiterhin ungünstig beeinflußt. Verärgert packten wir
unsere Sachen und stapften schwer beladen teils den Pfad entlang, teils über unwegsames und feuchtes Sumpfgelände, auf dem wir unter
unseren Lasten bis zu den Knöcheln einsanken. Eine Stromschnelle folgt der anderen, bis die ganze Strecke in einem tosenden Katarakt ihren krönenden Abschluß
findet. Der DKV-Führer beschreibt diesen Katarakt mit WW 5. Wir möchten dringend vor diesem Ungeheuer warnen! Danach breitete sich ein langgezogener See vor uns aus, an dem wir zu zelten beschlossen.
Unser Zelt stand am Fuße eines beachtlichen Hügels, fast schon eines Berges, der einen guten Überblick über unser Territorium bieten würde. Nach dem Abendessen beschloß ich also, den Gipfel
zu besteigen, was keine besonderen Schwierigkeiten bereitete; nur naß war der Aufstieg und der Abstieg nicht weniger. Oben angekommen fand ich ein weiträumiges Plateau vor, auf dem wohl auch schon einmal
Wanderer ein Lagerfeuer entfacht hatten. Die Aussicht war großartig. Und endlich konnte ich auch die Orientierung wieder finden. Hinter den Wäldern im Westen glitzerte ein
langgestrecktes Band in der Abendsonne; tatsächlich nämlich befanden wir uns nur noch etwa einen Kilometer vom Femund entfernt. Höchstens zwei Stunden Fahrt würden wir benötigen. Ich stieg wieder hinab und
berichtete.„Hoffentlich hält der Flicken“, meinte Jasmin. Das war auch meine Sorge. Wir hatten am
Nachmittag einen neuen Flicken auf das Boot geklebt und dabei einen anderen Kleber benutzt, einen Kleber, der nicht eigens für Boote geeignet war. Das mußte nichts heißen, halten konnte er trotzdem.
„Wir müssen den Flicken eben austesten, morgen, wenn wir wieder auf dem Wasser sind. Ich will jedenfalls nicht, daß uns unterwegs auf dem Femund die Luft ausgeht!“ „Austesten? Wie soll das gehen?“ „Na ja, wir schauen halt, ob er hält, und zwar bevor wir über den Femund fahren.“ „Und das nennst du austesten?“ „Hmm...“
So ganz wohl war mir nicht bei der Sache, aber was sollten wir tun? Auf dem kleinen See im Laufe der Röa und danach auf den kommenden
Stromschnellen würde uns keine Gefahr drohen; immer wäre rettendes Ufer in der Nähe. Auf dem Femund dann hätten wir ein gutes Stück von
etwa fünf Kilometern in nördlicher Richtung zu paddeln, bevor wir eine langgestreckte Bucht nach Westen zu überqueren hätten. Erst dort
könnte entweichende Luft gefährlich werden. Bei den geringsten Bedenken aber könnten wir die Bucht ausfahren. Über den Femund
Am nächsten Morgen untersuchten wir als erstes den Flicken. Er würde halten, wenigstens vorläufig. Wie oft, hatten wir bei den ersten
Paddelschlägen auf dem glatten Wasser des Sees das Gefühl, recht schnell voran zu kommen und wunderten uns dann, wie wenig später
dieser Eindruck wieder verschwinden konnte. Die erste Schnelle am Seeausgang umtrugen wir; im Eingang ist sie verblockt mit hohen Wellen,
und auch in der unteren Hälfte schäumen hohe Wellen, so daß wir dort nicht einsetzen konnten. Die zweite Stromschnelle kurz danach
besichtigten wir. Sie erschien uns fahrbar, obwohl sie vom Wasser aus dann doch etwas schwieriger war. Es folgte eine niedrige Brücke, die
wir gerade noch passieren konnten, dann noch eine leichte Schnelle, und wir waren bereits in der Mündung der Röa in den Femund.
Rechts am Ufer stand eine kleine Hütte mit Motorboot davor, links auf einer Anhöhe zeltete eine Familie mit Kindern. Deutlich empfanden wir die ersten Anzeichen der Zivilisation.
Wir wechselten ein paar Worte mit den Urlaubern auf der Anhöhe; sie waren Deutsche. Von Elgo waren sie mit dem öffentlichen Motorboot
hierher gekommen, das wenige Meter weiter an einem Anlegesteg hält. Wir überlegten. Wir würden mehr als zweieinhalb Stunden auf das
öffentliche Gefährt warten müssen, nicht viel länger aber würden wir brauchen, um neuneinhalb Kilometer über den See zu paddeln;
andererseits schwebte am gegenüberliegenden Ufer eine schwarze Wolke entlang. Wir nahmen die Wolke inkauf und bestiegen unser Boot.
Der Wind kam von Südwest und also schräg von hinten; er trieb uns schnell voran, ohne daß wir viel zu paddeln gehabt hätten. Die ersten fünf
Kilometer blieben wir in Reichweite des östlichen Ufers, bis wir sicher waren, daß wir keine Luft verloren. Dann entschieden wir uns für die
kurze Variante: quer über den See nach Nordwesten, wo wir eine Art Siedlung erwarteten. Bis jetzt hatten wir den Wind im Rücken gehabt. Eine Schauerwolke nach der anderen war parallel zu unserer Fahrtrichtung am anderen Ufer
vorübergezogen und hatte für kräftige und weithin sichtbare Niederschläge in der Bucht gesorgt, die wir ansteuerten. Nun nahmen wir Kurs auf
die Bucht, die in weiter Ferne auf der anderen Seite des Femund im grauen Regen verborgen lag. Der steife Südwest blies jetzt von der Seite
und brachte uns immer wieder vom Kurs ab. Vor uns lag eine winzige, unbewohnte Insel. Die steuerten wir an, um notfalls eine Zuflucht zu
haben. Wir brauchten sie nicht, alles ging glatt, aber wir hatten ordentlich zu tun wegen des Windes. Canadier, speziell Schlauch-Canadier,
wie unserer, sind extrem windempfindlich. Unser Boot ist eigentlich für Wildwasser konzipiert, kein Kiel stabilisiert den Geradeauslauf, kein
schnittiger Bug durchpflügt die Wassermassen; es ist ungefähr so schnell wie ein LKW-Schlauch, mit dem Kinder im Baggersee spielen. Dafür
hat es im Wildwasser deutliche Vorteile (auch gegenüber dem LKW-Schlauch ). Nach der Insel passierten wir eine Halbinsel zur Rechten, dann waren wir in der letzten Bucht, an deren Ende die Siedlung gelegen ist.Allmählich tauchten am Ufer die typischen Holzhäuser der Norweger auf, immer mehr wurden es, Kinder spielten am Strand mit ihrem Hund
und winkten, ein Motorboot rauschte an uns vorbei, vor einem der Häuschen hatte man ein Feuer entzündet und verbrannte irgendwelchen
Kram, dann plötzlich tauchte die Anlegestelle des Motorschiffes auf, mit dem wir eventuell hatten übersetzten wollen; es war immer noch nicht
da, wir waren schneller gewesen; ein Bus stehtstand wartend am Kai. Und schließlich tauchte der Hafen vor uns auf, ein Hafen für die kleinen
Motorboote, die auf allen skandinavischen Seen unterwegs sind, gleich wo man sich befindet.
Auf der Fahrt über denn See waren wir trocken geblieben. Kein Regentropfen hatte uns erreicht. Jetzt aber stand drohend eine schwarze Gewitterwolke schon fast über uns und begann, gefährlich zu grollen.
Mit steifen Gliedern stiegen wir an Land. Ein Gefühl von Beklemmung beschlich uns. Hier war unsere Reise unwiderruflich zuende; wir wußten
nicht, wann wir jemals wieder in diese Gegend kommen würden. Da erreichten uns die ersten dicken Tropfen. Wir kramten das Nötigste
zusammen, nahmen den Hund an die Leine und verkrochen uns eilig in einem nahen Windschutz am Hafen. |